Forschungsprojekt GEISTERRADELN

Forschungprojekt GEISTERRADELN

Geisterradeln ist eine Kampagne, die aus einen Forschungsprojekt der Fachhochschule Erfurt entstand. Dieses Projekt wurde aus Mittel zur Umsetzung des Nationalen Radverkehrsplanes (NRVP 2020) sowie vom Thüringer Ministerium für Infrastruktur und Landwirtschaft (TMIL) und der Arbeitsgemeinschaft fahrradfreundlicher Kommunen in Thüringen (AGFK-TH) gefördert.

Aber erst einmal zum Begriff: Als Geisterradler werden, analog zu den bekannten Geisterfahrern auf Straßen und Autobahnen, Radfahrer bezeichnet, die sich entgegen der vorgeschriebenen Fahrrichtung bewegen. Dieses Verhalten ist leider alltäglich, aber auch sehr riskant und gefährlich.

Wir haben mit Frau Juliane Böhmer über das Thema Geisterradeln gesprochen:

Im Interview mit Frau Dipl.-Geogr. Juliane Böhmer von der Fachhochschule Erfurt aus dem Fachbereich Verkehrs- und Transportwesen der Fakultät Wirtschaft-Logisik-Verkehr

Hallo Frau Böhmer, vielen Dank, dass Sie sich für ein kleines Interview mit der AGFK-TH bereit erklärt haben. Sie arbeiten seit einiger Zeit an einem Forschungsprojekt zum Thema „Geisterradeln“. Woher kamen die Ideen für das Forschungsprojekt?

Die Idee entstand aus einer Kooperation mit der AGFK-TH. Als Fachbereich der Hochschule unterstützen wir schon länger die Arbeit der AGFK. Insbesondere in problematischen Bereichen der Radverkehrsförderung versuchen wir mit unserer Forschungstätigkeit neue Lösungen zu entwickeln. So kam es auch zu dem Projekt "Geisterradeln". Sogenanntes Linksradeln oder Geisterradeln ist ein häufiges Phänomen unter den Radfahrenden. Gleichzeitig gehört es aber auch zu den Hauptunfallursachen im Radverkehr. Die Mitgliederkommunen sahen daher großen Handlungsbedarf in diesem Bereich ohne genau zu wissen, wie man dem Problem wirklich Herr werden könnte. Und tatsächlich ist es nicht einfach so aufzulösen, da Geisterradeln verschiedene Ursachen haben kann. Diese gilt es zu ermitteln und entsprechend Strategien zu entwickeln.

Auf die Ursachen des Geisterradelns möchte ich gleich noch einmal zurückkommen. Aber erst einmal interessiert mich ihre Zielstellung. Was möchten Sie mit dem Projekt erreichen?

An oberster Stelle steht natürlich das Ziel, Geisterradeln zu reduzieren. Dies soll aber unter dem Aspekt der Radverkehrsförderung geschehen und nicht mit Repressalien für den Radverkehr verbunden sein. Wichtig ist, die Sicherheit für den Radverkehr zu erhöhen. So bekommen wir auch mehr Menschen auf´s Rad.
Geisterradeln geschieht zum einen natürlich oft, weil die vorhandene Infrastruktur zu unbequem oder zu umständlich ist. Da Radfahren mit eigener Muskelkraft geschieht, sind hier kurze und direkte Wegebeziehungen besonders wichtig. Die Akzeptanz für Umwege oder Wartezeiten ist extrem gering. Wir wollen daher Empfehlungen für eine gute und direkte Radverkehrsführung geben. Vieles ist allerdings bereits bekannt und in Regelwerken niedergelegt. Es sind eher die Rahmenbedingungen für die Planung und die Umsetzung in der Praxis, die dazu führen, dass der Ausbau der Infrastruktur nicht immer optimal verläuft. Auch hier hoffen wir Tipps und gute Beispiele entwickeln zu können. Zum anderen geschieht Geisterradeln auch aus Unbedarftheit. Besonders junge Menschen fahren oft „der Nase nach“ ohne auf Verkehrsregeln zu achten. Hier wollen wir ebenfalls ansetzen. Zu diesem Zweck haben wir die Kampagne "Geisterradeln" entwickelt. Diese soll Radfahrende für typische Gefahrensituationen sensibilisieren. Die Kampagne steht unter www.geisterradeln.de zum kostenfreien Download Kommunen, Verbänden und Initiativen zur freien Verfügung.

Sie sagten bereits, dass Geisterradeln unterschiedliche Ursachen haben kann. Wie sind Sie im Rahmen des Projekts vorgegangen um diese herauszuarbeiten?

Herauszufinden, was konkret dazu führt, dass Radfahrende so häufig zu Geisterradlern werden, ist eine Kernaufgabe des Projekts. Wir untersuchen dies hauptsächlich mit Befragungen der Radfahrenden an Orten, die durch die Art ihrer Gestaltung Geisterradeln provozieren. Wir fragen zum Beispiel wo und wie häufig die Befragten geisterradeln - aber auch, inwiefern sie sich dessen überhaupt bewusst sind. Ebenso fragen wir nach der Akzeptanz bestimmter räumlicher Situationen sowie der Verkehrsregeln. Über die hieraus gewonnenen Erkenntnisse versuchen wir anschließend Ansätze zur Verbesserung der Situation zu entwickeln.
Aber auch die Analyse von Unfalldaten ist Teil des Projektes. Dabei analysieren wir, unter welchen infrastrukturellen Bedingungen häufig Geisterradel-Unfälle passieren. Zusätzlich konnten wir im Rahmen des Forschungsvorhabens ein großes Netzwerk aus Fachleuten aufbauen, über das wir regelmäßig Informationen austauschen sowie Ursachen und Lösungsmöglichkeiten diskutieren.

Sie veröffentlichen in Bezug auf dieses Projekt regelmäßig Mitteilung über den Bearbeitungsstand. In einer ihrer letzten Pressemitteilungen kündigten Sie Aktionen zur Aufklärung an. Was meinen Sie damit?

Diese Pressemitteilung wurde verfasst, bevor der Corona-Virus seine volle Wirkung entfaltete. Für jeden Monat war der Aushang eines neuen Geisterradel-Motivs als Poster in der Stadt Erfurt geplant. In kleinen Verteilaktionen an Hot-Spots des Erfurter Geisterradelns sollte eine dazu passende Postkarte verteilt werden. Diese Postkarten sind mit einem humoristischen Geisterradel-Motiv und mit einem lockeren Verhaltenskodex-Spruch versehen. Auch einen Button mit entsprechendem Motiv hätte es dazu gegeben.
Im Rahmen dieser Verteilaktionen wollten wir mit den Radfahrenden ins Gespräch kommen und Aufklärungsarbeit leisten. Leider hat uns die aktuelle Situation einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die Poster-Aktion läuft weiter, aber von einer direkten Ansprache der Radfahrenden müssen wir vorerst absehen.

Es ist natürlich sehr schade, dass die geplanten Aktionen nicht laufen können. Aber wie geht es jetzt weiter? Was sind ihre nächsten Schritte?

In der derzeitigen Situation ist vieles unklar. Wir müssen sehen, wie sich die Dinge entwickeln. Die Geisterradel-Motive werden voraussichtlich noch bis Herbst in verschiedenen Formaten und Motiven in Erfurt zu sehen sein. Für alles Weitere kann ich noch keine Prognose abgeben. Positiv zu vermerken ist aber, dass die Geisterradel-Kampagne auch nach Ablauf des Projektes zur freien Verfügung steht. Die Motive können von der Website kostenfrei heruntergeladen werden und dann entsprechend zum Druck verwendet werden. Das gibt Kommunen und Verbänden die Möglichkeit, relativ kostengünstig Kampagnen- und Aufklärungsarbeit leisten zu können.
Für den Herbst planen wir einen weiteren Evaluationsdurchgang mit nochmaliger Befragung der Radfahrenden. Hier geht es vor allem darum zu schauen, inwieweit die Kampagne wahrgenommen worden ist, ihre Inhalte bekannt sind und die Kampagne vielleicht auch auf das Verhalten der Radfahrenden Einfluss genommen hat. Zusätzlich hängen zwei sogenannte Dialogdisplays in Erfurt. Diese geben Geisterradlern über einen Warnblinker oder eine LED-Anzeige direkt Rückmeldung auf ihr Verhalten. Das Prinzip ist ähnlich wie bei den Speed-Displays, die wir aus dem motorisierten Verkehr kennen. Da blinkt z.B. ein Smiley, wenn die Geschwindigkeit stimmt. Bei unseren Dialogdisplay blinkt ebenfalls eine Anzeige, wenn linksfahrende Radfahrer erfasst werden. Beide Geräte sind Prototypen und werden im Rahmen des Projektes getestet.

Zu guter Letzt noch eine Frage an Sie als Radfahrerin. Haben Sie durch das Projekt Veränderungen in Ihrer Fahrweise als Radfahrende feststellen können?

Absolut! Der eigene Blick auf das Thema wird sehr geschärft. Als ich begann, mich intensiver mit dem Thema auseinander zu setzen, habe ich gemerkt, wie oft man selbst völlig unbewusst und selbstverständlich geisterradelt. Es ist ein sehr alltägliches Verhaltensmuster. Dann habe ich mich gefragt, warum das so ist. Ich begann mein eigenes Verhalten und meine Wegebeziehungen zu hinterfragen. Ich beobachtete mich und stellte fest, dass ich ganz intuitiv meinen Weg entsprechend meines Sicherheitsgefühls, der notwendigen Direktheit und in Vermeidung von Wartezeiten suche. Die vorhandene Infrastruktur hat dabei mein Ansinnen, sicher und schnell zu sein, nicht unbedingt unterstützt. Das wiederum hat mich zu dem Punkt gebracht, dass es für Radfahrende zumeist praktisch und vor allem völlig selbstverständlich ist, sich nicht an die Regeln zu halten. Daraufhin habe ich versucht, meine Wege entsprechend der Straßenverkehrsordnung zurück zu legen. Und ich war dabei sogar nicht unbedingt langsamer. Allerdings habe ich mich deutlich gefährdeter gefühlt, z.B. bei der Querung von Kfz-Fahrspuren zum Linksabbiegen. Manches habe ich mir auch gar nicht getraut und bin dann doch lieber wieder geistergeradelt.
Es ist also sehr wichtig, eine Infrastruktur bereit zu stellen, die ein Regel-konformes Verhalten gefahrlos möglich macht. Darauf aufbauend sollte Bewusstseinsbildung für die Einhaltung von Regeln durchgeführt und natürlich die Regelkenntnis erweitert werden. Beides sind langfristige Ziele. In unserem Forschungsvorhaben wollen wir einen Grundstein dafür legen, z.B. die die Fachplanung verbessern. Wichtiger Teil des Vorhabens ist es aber ebenso, für die Gefahren des Geisterradelns zu sensibilisieren. Und auch hier kann ich persönliche Erfahrungen einbringen. Ich kann mich noch deutlich daran erinnern, als ich in jungen Jahren das erste Mal auf einem Radweg in falscher Richtung unterwegs war. Ich kam an die Einmündung einer Nebenstraße auf die Hauptstraße und wäre von einem abbiegenden Pkw fast überfahren worden. Er hatte einfach nicht mit mir gerechnet und ich wiederum hatte nicht damit gerechnet, dass er mich nicht sehen könnte. Das geht vielen jungen Leuten so wie sich bereits in unserem Projekt zeigte. Daher ist die Durchführung der Geisterradel-Kampagne zur Bewusstseinsbildung auch dann sinnvoll, wenn die Rahmenbedingungen für das Radfahren noch nicht perfekt sind.

Vielen Dank Frau Böhmer für Ihre Zeit und die vielen Informationen. Sie haben sich einem alltäglich, aber brisantem Thema angenommen und mit der Kampagne eine Möglichkeit geschaffen, auf ansprechende und bildhafte Weise zu sensibilisieren.

Im Rahmen dieser Kampagne ist neben vielen tollen Materialien auch ein Video zur Sensibilisierung des Themas entstanden. Diesen Spot finden Sie hier.

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